16.04.2025
Die eigene Stimme finden
Seit 1999 wird am 16. April der World Voice Day, also der Internationale Tag der Stimme, gefeiert. Ursprünglich initiiert in Brasilien durch HNO-Ärzt:innen, Logopäd:innen und Gesangslehrer:innen, ist das Ziel dieses Feiertages, den Fokus auf Stimm-Gesundheit und vorbeugende Maßnahmen zur Erhaltung derselben zu legen. Schließlich dient die Stimme als wichtigstes Kommunikationsinstrument unserer Gesellschaft.
Doch was genau ist eigentlich Stimme?
Die Stimme ist weit mehr als nur der biomechanische Vorgang, der durch die Vibration der Stimmbänder erzeugt wird. Sie ist ein komplexes Zusammenspiel von Körper, Geist und Emotionen. Stimme umfasst nicht nur das gesprochene Wort, sondern auch nonverbale Ausdrucksformen wie Mimik, Gestik und Körpersprache. Schließlich haben auch Menschen, die physisch nicht sprechen können, eine Stimme im übertragenen Sinne. Ihre Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse werden durch andere Kommunikationsmittel wie Schrift, Kunst oder Körpersprache ausgedrückt. Diese „innere Stimme" ist entscheidend für das Selbstverständnis und die Identität eines Menschen. Sie spiegelt unsere Werte, Überzeugungen und Erfahrungen wider und ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Fähigkeit, uns in der Welt zu orientieren und Beziehungen zu anderen aufzubauen. In der Psychotherapie wird die Stimme somit nicht nur als akustisches Phänomen betrachtet, sondern als ein tief verwurzeltes Element unserer menschlichen Erfahrung, das es uns ermöglicht, uns selbst und unsere Bedürfnisse zu artikulieren und zu verstehen. Und von anderen gehört und verstanden zu werden.
Die Stimme in der Psychotherapie
In der Psychotherapie spielt die Stimme also eine zentrale Rolle. Sie ist nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern auch ein Ausdruck unserer inneren Welt. Die Fähigkeit, sich authentisch auszudrücken, ist entscheidend für die Entwicklung von Selbstwertgefühl und emotionaler Resilienz. Die Art und Weise, wie wir sprechen, spiegelt emotionale Zustände wider und beeinflusst, wie wir uns selbst und unsere Beziehungen wahrnehmen. Eine klare und authentische Stimme kann den Weg zu Heilung und Selbstakzeptanz ebnen.
Die Herausforderung, die eigene Stimme zu hören und zu finden
Für viele Menschen in unserer Gesellschaft - zu unseren Zeiten - kann es eine Herausforderung sein, die eigene Stimme zu hören und zu finden. Sie laut werden zu lassen, ist dann oftmals die nächste Herausforderung. In unseren gesellschaftlichen Strukturen wachsen wir oft in einem Umfeld auf, in dem unsere Bedürfnisse und Gefühle nicht gehört oder ernst genommen werden. Wir sollen funktionieren, uns in die Gesellschaft einpassen. Eigene Bedürfnisse müssen da zurücktreten. Dies kann zu einem Verlust des Selbstwertgefühls und zu Schwierigkeiten führen, für sich selbst einzustehen.
Carl Rogers, Begründer der Personenzentrierten Gesprächsführung, beschreibt dies in seinem Konzept mit Konflikten zwischen Selbstbild und Organismischem Erfahren.
Selbstbild & Organismisches Erfahren
Das Selbstbild bezieht sich auf das Bild, das eine Person von sich selbst hat, einschließlich ihrer Überzeugungen, Werte und Identität. Es ist oft von sozialen Einflüssen, Erwartungen und Erfahrungen geprägt. Wenn das Selbstbild stark von äußeren Faktoren beeinflusst wird, kann es zu einem Ungleichgewicht zwischen dem, was eine Person denkt, dass sie sein sollte, und dem, was sie tatsächlich fühlt oder erlebt, kommen.
Das Organismische Erfahren hingegen beschreibt die unmittelbaren Erfahrungen und Gefühle einer Person. Es ist das, was sie wirklich empfindet, unabhängig von äußeren Erwartungen oder sozialen Normen. Rogers glaubte, dass ein gesundes psychologisches Wachstum stattfindet, wenn Menschen in der Lage sind, ihr Organismisches Erfahren zu erkennen und zu akzeptieren, anstatt es zu unterdrücken oder zu ignorieren.
Insgesamt betonte Rogers die Bedeutung der Selbstakzeptanz und der Authentizität. Ein harmonisches Verhältnis zwischen Selbstbild und Organismischem Erfahren führt zu einem erfüllteren und authentischeren Leben.
Die Bedeutung, unseren Bedürfnissen eine Stimme zu geben
Es ist entscheidend, unseren Bedürfnissen eine Stimme zu geben. Oft neigen wir dazu, unsere eigenen Wünsche und Gefühle zu ignorieren oder zu unterdrücken, aus Angst vor Ablehnung oder Konflikten. Die Fähigkeit, unsere Bedürfnisse klar zu kommunizieren, ist ein Schlüssel zu empathischer Kommunikation und gesunden Beziehungen. Das Ignorieren unserer inneren Stimme kann langfristig zu emotionalen Blockaden und Unzufriedenheit führen. Indem wir lernen, auf unsere Bedürfnisse zu hören und sie auszudrücken, schaffen wir Raum für Selbstfürsorge und Akzeptanz. Dies ist nicht nur wichtig für unser eigenes Wohlbefinden, sondern auch für die Qualität unserer Beziehungen zu anderen.
Fazit
Die Stimme ist ein kraftvolles Werkzeug, sowohl im Leben als auch in der Psychotherapie. Sie ermöglicht es uns, uns selbst auszudrücken, für unsere Bedürfnisse einzustehen und authentische Verbindungen zu anderen aufzubauen. Der Prozess, die eigene Stimme zu entdecken, erfordert Mut und Selbstreflexion. Es ist ein Schritt, der oft mit Angst und Zweifeln verbunden ist, aber auch eine wichtige Voraussetzung für persönliches Wachstum und Selbstverwirklichung. Wenn du das Gefühl hast, deine eigene Stimme noch (!) nicht gefunden zu haben, oder du weißt, dass du Unterstützung dabei brauchst, sie laut werden zu lassen, kann eine Psychotherapie der richtige Weg für dich sein.
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Was kannst du tun, um deine eigene Stimme zu hören und laut werden zu lassen?
- Selbstreflexion: Der erste Gedanke, der uns durch den Kopf schießt, ist meist nicht unser eigener. Oftmals handelt es sich dabei stattdessen um einen Glaubenssatz, begründet in unserer Erziehung. Nimm dir Zeit, um über deine Werte, Überzeugungen und Erfahrungen nachzudenken. Was ist dir wichtig? Was möchtest du ausdrücken? Ein Tagebuch zu führen, kann eine hilfreiche Methode sein, um deine Gedanken zu ordnen.
- Achtsamkeit: Höre auf deine inneren Gefühle und Bedürfnisse. Achtsamkeitsübungen, wie Meditation, können dir helfen, dich mit deinem inneren Selbst zu verbinden und deine Emotionen wahrzunehmen. Du musst nicht sofort auf etwas reagieren, du kannst dir die Zeit nehmen, vorher in dich hinein zu hören.
- Kommunikation: Beginne, deine Bedürfnisse und Gefühle in kleinen, sicheren Umgebungen auszudrücken. Das kann in Gesprächen mit Freund:innen oder in einem unterstützenden Umfeld geschehen.
- Kreative Ausdrucksformen: Nutze Kunst, Musik oder Schreiben, um deine Stimme auf verschiedene Weisen auszudrücken. Diese kreativen Mittel können dir helfen, deine Gedanken und Gefühle zu artikulieren, auch wenn du dich verbal unsicher fühlst. Und nichts davon muss öffentlich stattfinden, du kannst es einfach nur für dich oder in einem geschützten Rahmen tun.
- Selbstakzeptanz: Arbeite daran, dich selbst zu akzeptieren, so wie du bist. Erkenne, dass es in Ordnung ist, verletzlich zu sein und dass deine Stimme wertvoll ist, unabhängig von äußeren Erwartungen.
- Mut zur Authentizität: Sei bereit, dich authentisch zu zeigen, auch wenn es Angst oder Zweifel auslöst. Überwindest du diese Herausforderungen, kommst du deiner Stimme ein Stück näher. Trau dich!
- Professionelle Unterstützung in Betracht ziehen: Wenn du Schwierigkeiten hast, deine Stimme zu finden oder auszudrücken, kann es hilfreich sein, mit einem/einer Therapeut:in zu arbeiten, der/die dich auf diesem Weg unterstützen kann.